Debütroman von Yulia Marfutova

Der Himmel vor hundert Jahren

Eine neue, ganz eigene Stimme, magisch der Sound, wunderbar die Fantasie – und schon nach dem allerersten Satz ist man in eine andere Welt entrückt. Yulia Marfutovas Debutroman ist gerade bei Rowohlt erschienen: „Der Himmel vor hundert Jahren“. Für ihr Manuskript wurde die Autorin 2017 mit dem GWK-Förderpreis ausgezeichnet.

Ein russisches Dorf um das Jahr 1918. Die Revolution hat stattgefunden, doch die Dörfler wissen davon nichts. Ein Fremder taucht auf … Aus der Laudatio auf den GWK-Förderpreis Literatur: „ Yulia Marfutova beherrscht die Kunst des Erzählens und ragt als ganz eigene Stimme unter den jungen Romanciers hervor. Ihr erster Roman entwickelt einen Lesesog, dem man sich kaum entziehen kann. Souverän stellt sich die Schriftstellerin in die Tradition der großen Erzähler des 19. und 20. Jhs. und inszeniert, vor dem Hintergrund der russischen Oktoberrevolution und „am abgelegensten, am vergessensten Ort“ des untergehenden Zarenreiches, den Konflikt zwischen der überlieferten Lebens- und Wissensform des Aberglaubens und dem neuen, den Dörflern fremden Paradigma der naturwissenschaftlichen Moderne. Von Fabulierlust getragen, durchdrungen von der Freude an inneren Bildern und der Musik der Sprache, erzählt Marfutova jedoch nicht realistisch-nachahmend, sondern allegorisch-erfindend. Dabei ist alles, auch dort, wo der Text abzuschweifen und in Details auszuufern scheint, bezogen auf das Experiment, das er darstellt, und ein unverzichtbares Moment der großen Metapher. Diese erlangt, obwohl die Erzählung historisch konkret situiert ist, überzeitliche Allgemeingültigkeit und eine fast mythische Dimension. Humor, an der romantischen geschulte Ironie, prägt die Erzählperspektive. Wohlkalkuliert ist der Bogen, den jeder einzelne Absatz inhaltlich und vermöge des Satzbaus spannt, das Spiel mit Rhythmus, mit Klang. Gekonnt die Reduktion und Zeichnung des Romanpersonals, die Wechsel von Innen- und Außenperspektive, die Indirektheit der mündlichen Rede. Und immer schaut die Autorin ohne zu moralisieren auf ihre uns befremdlichen Figuren, ausdrücklich auch auf ihr Reden, ihr Marktgeschwätz, ihr Erzählen. Darin aber reflektiert sie auch das Erzählen überhaupt – und erzählt seine nach wie vor lebendige Quelle: Geschichten werden gegen die Ohnmacht erfunden, aus Angst und gegen die Furcht; gegen die Furcht vor dem Fremden und seinem verlockenden Zauber, vor dem Unbegriffen-Unbegreiflichen, das war und das ist; gegen die Angst vor dem, was kommen könnte, das die eigene Phantasie erzeugt oder das durch die große Geschichte und die Gewalt der Natur einem Menschen droht. Geschichten setzen dort ein, wo Wissen versagt ist und Wissen versagt.