Yoana Tuzharova

2022

Yoana Tuzharova macht engagierte Kunst, die originell und intelligent ist und die Lust bereitet. Die Künstlerin kreiert komplexe Installationen, mit denen sie auf den jeweiligen Ausstellungsort reagiert, außerdem mobile Objekte, mit denen sie in ausgewählten Kontexten punktuell interveniert. Was man sieht oder auch hört, um- und durchschreitet oder berührt, nimmt ästhetisch für sich ein. Es ist schön, häufig Ornament – und zieht die Betrachtenden gerade dadurch, dass es sie anspricht, in eine Auseinandersetzung hinein, die weiterführt. Dann erst, auf den zweiten, durch aufmerksames Wahrnehmen, Wissen um den Produktionsprozess und durch Denken erweiterten Blick, erschließt sich eine Arbeit Tuzharovas in ihrer konzeptionellen Tragweite und Tiefe. Dann, wenn die Betrachtenden selber aktiv werden, entfaltet sich ihre Ambivalenz und das kritische Potenzial des Schönen. So ist eine Arbeit Tuzharovas kein geschlossenes Kunstwerk, autonom und in sich verkapselt, sondern ortsspezifisch, was heißt: in einem doppelten Sinn offen. Eine Installation antwortet und weist auf den physischen Raum, in dem sie sich befindet, ebenso wie auf seine institutionelle Einbindung und gesellschaftliche Bedeutung. Sie macht den Nahraum dadurch auf neue Weise erschließbar. Zugleich ist sie darin auf den Globus und unsere Welt, auf unsere vielfältige Gegenwart, auf die Menschheits- und Erdgeschichte hin offen. Denn sichtbar und unsichtbar bedient sich die Künstlerin in ihrer Arbeit der digitalen Technologie, die unsere Lebenswelt durchdringt, unseres Primärmediums Internet, durch das wir uns ein Bild von der Welt machen und durch das wir weltweit voneinander wissen, in dem wir schicksalhaft miteinander verbunden sind. Als sog. Web 2.0 hat das Netz unsere Arbeitswelt revolutioniert, indem es unendlich viele Daten, Fakten und Wissen, zudem neue Verfahren und Werkzeuge für Kommunikation und Produktion bereitstellt und neue Produkte möglich macht.

Digitale Herstellungsverfahren kombiniert Yoana Tuzharova in ihren Arbeiten mit elektronischen Medien sowie mit traditionellen Materialien, etwa Holz, Keramik, Papier, Klang, Licht, Erde oder Musik, und händischen Techniken wie Drechseln, Siebdruck, Töpfern, Tischlern, Malen, Zeichnen oder Musizieren – und schafft so im offenen Kunstwerk neue Schnittstellen zwischen der virtuellen und der realen Wirklichkeit, von Gegenwart und Geschichte, Individuum und (Welt-)Gesellschaft. Zudem nutzt die Künstlerin in ihren neueren Arbeiten das World Wide Web als Informationsquelle für Themen, die sie als (Welt-)Bürgerin und Künstlerin umtreiben. So konfrontiert sie uns darin nicht allein mit genuin ästhetischen Themen, „schönen“ Fragen nach Form, Material oder Raum, sondern auch – eben indirekt, erst im wissenden zweiten Hinschaun – mit den brennenden Fragen unserer Zeit: dadurch, dass sie ihre Ornamente, die Formen, Farben und Klänge, mit Bedeutung füllt. Denn was man sieht, entspringt nicht Yoana Tuzharovas Fantasie, sondern ihre Ornamente sind analog-digitale Übersetzungen von statistischen Daten und Grafiken, die Weltbank, UNO, UNESCO etc. im Internet veröffentlicht haben, in zwei- und dreidimensionale Gestalten. Die Daten und Grafiken repräsentieren globale soziale, ökonomische und ökologische Entwicklungen, welche das Zusammenleben und das Leben auf der Erde überhaupt bedrohen, die uns also alle angehen, uns zu denken geben und zum rechten Handeln auffordern sollten. Das interesselose Wohlgefallen am bloß Schönen, das Tuzharovas Arbeiten zunächst erwecken, wandelt sich in der ernsthaften Auseinandersetzung mit ihnen in die interessierte Lust am Verstehen-Wollen des existenziell aufgeladenen schönen Scheins. In seiner Ambivalenz und seinem kritischen Potential erkannt, wird er zum einen als bloßer Schein identifizierbar, als schöne Form, die Leid und Schrecken ver-hüllt, die zum andern aber gerade dadurch ihren beunruhigenden Inhalt ent-hüllt. So spiegelt Yoana Tuzharova in ihren Arbeiten die Verdrängungsstrategien, die wir alle in unserem Alltag einsetzen, mit denen wir es uns schön und die es uns möglich machen, über den Abgrund zu tanzen. Indem sie sie in künstlerische Formen übersetzt, unterläuft sie sie allerdings zugleich. Diese Dialektik von Schönheit und Schrecken, Form und Bedeutung lassen Yoana Tuzharovas Arbeiten mit sinnlicher und mit Erkenntnislust reflektieren, weil sie eine eigene, originelle Kunstsprache erfunden hat, die anspricht und Ansprüche stellt, die überzeugt und schön ist.

Susanne Schulte, Laudatio GWK-Förderpreis Kunst 2022

Künstlerin

*1986 Russe, Bulgarien
2005 Abschluss im Fach Malerei an der Nationalen Schule der Künste bei Prof. Vesselin Stoyanov in Russe
2009 Bachelor im Fach Monumentale Kunst und Wandmalerei bei Oleg Gochev an der Fakultät für Bildende Künste in Veliko Tarnovo
2013–2019 Studium der Freien Kunst bei Maik und Dirk Löbbert an der Kunstakademie Münster
2017 Meisterschülerin bei Maik und Dirk Löbbert
2017 Diplom der Freien Kunst, Kunstakademie Münster

Webseite der Künstlerin
Ausstellung: „retro spektiv“ 13.11.2022-12.02.2023,  Gustav-Lübcke-Museum Hamm

Jury

Dr. des. Nico Anklam, Direktor der Kunsthalle Recklinghausen
Dr. Dagmar Kronenberger-Hüffer, freie Kunsthistorikerin, Münster
Dr. Diana Lenz-Weber, Stellv. Direktorin des Gustav-Lübcke-Museums, Hamm
David Rauer, GWK-Preisträger 2019, Osnabrück
Dr. Birgit Schulte, Stellv. Direktorin des Osthaus Museums Hagen
Dr. Eva Wruck, Kuratorin der Stiftung Situation Kunst, Bochum