Lisa Roy

2021

Lisa Roy wird für einen Auszug aus ihrem Romanmanuskript mit dem Arbeitstitel „Brennpunkt“ ausgezeichnet. In rücksichtsloser, politisch unkorrekter, jedoch umso prägnanterer Sprache, in unverblümt-starken und eigenwilligen Bildern, die von der intimen Kenntnis des Milieus, in dem ihr Roman spielt, zeugen, erzählt sie die Geschichte ihrer Protagonistin Arielle.

Kompromisslos und mutig ist „Brennpunkt“ als Ich-Erzählung der Hauptfigur gestaltet und auf packende Ambivalenz hin angelegt. Denn sieht es die Ich-Perspektive auf Identifikation der Leser:innen mit der Erzählerin ab, so wird das spontane Aufkommen emotionaler Nähe zu Arielle doch zugleich vereitelt, denn die Frau ist keine Sympathieträgerin. In ihrem aggressiv repulsiven Welt- und Ichbezug, in ihrer Empathielosigkeit und Amoralität, ihrer Schamlosigkeit, ihrem Stolz, durch den Zynismus in ihren Handlungen und Worten, ihr ästhetisches Reagieren, wo Mitgefühl gefragt wäre, durch ihren Hass auf sich selbst und die, denen sie begegnet, stößt sie ein bürgerliches Lesepublikum wohl eher vor den Kopf. Dieses unterstellen die Autorin und ihre Figur schon im Eingangssatz von „Brennpunkt“: „Das war keine gute Geschichte.“  Doch obwohl man es nicht leicht mit ihr hat, fesselt die Figur, weil Lisa Roy sie komplex und lebendig, ihre fiktive Schreibsituation aber dialogisch konzipiert hat und von Beginn an den Bruch in ihr spürbar macht, durch den man ihr nahekommt: Arielle ist existenziell verletzt durch das spurlose Verschwinden ihrer Mutter, als sie ein Kind war. Noch die 30-jährige Schreiberin vermisst sie – und spricht in ihrem Text mit ihr, richtet ihn explizit an ein Du: die verschwundene Mutter.

So wird „Brennpunkt“ zugänglich und spannend und entwickelt einen unwiderstehlichen Lesesog. Gegen den eigenen Widerstand wird man in Arielles Brüchigkeit hineingezogen und anstatt sie zu verdammen, zweifelt man schnell an ihrer Härte.

Lisa Roys Roman ist, das lässt der Auszug vermuten, als autotherapeutische Suche der Erzählerin nach sich selbst, als Rekonstruktion ihrer Biografie und Neukonstruktion ihres Ichs interpretierbar. Schreibanlass auf Erzählebene ist die Rückkehr der Aufsteigerin Arielle Freytag, die ihm als Senior Social Media Managerin in „etwas Besseres“, in eine hippe Düsseldorfer Bürgerlichkeit und ihr, wie sie es nennt, „wahres Ich“, entronnen war, an den Ort ihrer Herkunft: in ein „trauriges Stück Ruhrgebiet“ mit „armen Assis“, den Essener Norden – ein multiethnisches Viertel und sozialer Brennpunkt. Dem unmittelbar vorausgegangen war Arielles Entlassung aus der Psychiatrie, in die sie aufgrund von Depressionen mit Depersonalisationsstörung eingewiesen worden war. In ihrer Protagonistin, die, (noch) nicht geheilt, statt nach Düsseldorf, in ihren Beruf und in ihr „wahres Ich“, in ihre Essener Heimat zu ihrer Großmutter zurückkehrt, reflektiert Lisa Roy wie in einem Brennpunkt die Weisen und Motive von Frauen, aus „der Gosse“ zu verschwinden oder im „Ghetto“ zu bleiben. Indem Arielle in ihrem Schreiben, so scheint sich jedenfalls in dem Romananfang anzudeuten, in verschiedene Weisen weiblichen Verschwindens eindringt – sie denkt über ihre klinische Depression nach, über den Suizid oder die Ermordung zweier vermisster Mädchen, über das unaufgeklärte Verschwinden ihrer Mutter und die innere Emigration ihrer Großmutter in ein abschreckend exzentrisches Ich –, wird sie ihr sogenanntes „wahres Ich“, so hofft man jedenfalls nach 30 Seiten Lektüre für sie, vermutlich als ein falsches erkennen, in dem sie ihre Herkunft nur verdrängt, nicht aber integriert hat: „Man kann das Mädchen aus der Gosse holen, aber nicht die Gosse aus dem Mädchen“, wie Melanie, die Mutter eines der vermissten Kinder, die blieb, bemerkt.

Der Roman „Brennpunkt“ ist, wie schon auf seinen ersten Seiten erfahrbar, komplex und dicht und hochaktuell. Geschickt nimmt die Autorin die Lesenden mit in ein Milieu, in dem sich die gesellschaftlichen Probleme wie in einem Brennpunkt sammeln, das die Bürgerlichen meiden und hinter „Hecken“ verstecken, das sie gleichwohl verurteilen, vielleicht sogar fürchten.

Und hierin liegt die Brisanz von Lisa Roys Debut: Wer mit Arielle Freytag durch ihren Brennpunkt, den Essener Norden und ihr gebrochenes Herz, hindurchgeht, wird diese so fiktive wie realistische Figur aus „der Gosse“ fortan gewiss in sich tragen. Denn Arielles Geschichte berührt und gibt auf, anders zu denken. Das schnelle Urteil und die gängigen Begriffe, diese Wortmauern und -hecken, die verdrängen und nicht helfen zu verstehen, setzt sie außer kraft, so dass, wer begeistert liest, nicht einen „Brennpunkt“, ein „Ghetto“ oder die „Gosse“ und „Assis“ sieht, sondern Menschen – und sich selbst.

Susanne Schulte, Laudatio GWK-Förderpreis Literatur 2021

Künstlerin

*1990 Leipzig
Seit 2018 Studium Mediale Künste/ Literarisches Schreiben an der Kunsthochschule für Medien Köln

Homepage der Künstlerin

Jury

Sonja vom Brocke, GWK-Förderpreis 2015, Schriftstellerin, Berlin
Andreas Rötzer, Matthes & Seitz Berlin
Beate Tröger, Literaturkritikerin, Frankfurt am Main
Reto Ziegler, Edition Korrespondenzen, Wien