Justyna Janetzek

2020

Auf ihre ganz eigene Art und auf der Höhe der Zeit thematisiert die Bildhauerin und Zeichnerin Justyna Janetzek in ihrer Kunst das Sehen – als einen subjektiven Vorgang, innere und äußere Bewegung der Sehenden, als ein individuell-perspektivisches Sichtbarmachen und prozessuales Sichtbarwerden. Die Künstlerin macht ortsspezifische Installationen und außerdem Zeichnungen auf Papier, wobei ihre Installationen zum Teil wirken wie Zeichnungen im Raum, ihre Zeichnungen aber wie Skulpturen. Trotz ihrer technisch-konstruktiven Anmutung, ihrer Nichtdinghaftigkeit und Abstraktheit haben die Arbeiten Justyna Janetzeks einen freundlich-ansprechenden, offenen Charakter. Sie lassen eine innere Dynamik spüren und haben menschliches Maß, selbst die großen Installationen sind antimonumental. Ihre ungewöhnliche, schöne und stille Erscheinung fasziniert.

Als Zeichnerin arbeitet Justyna Janetzek mit Bleistift und Fineliner, Acrylstift und Folien auf Papier. Durch farbige Linien und enge Schraffuren entstehen colorierte, geschlossene und offene Flächen, die sich überlagern und die geometrisch sind, ohne dass sie einfach, mit dem mathematischen Formenrepertoire, zu beschreiben wären. Es sind transparente und duftige, zugleich zwei- und dreidimensional wirkende Objekte, die durch einen weißen Raum, den sie eröffnen, wie durch einen Frei-Raum zu schweben scheinen. Begrifflicher Fixierung entziehen sie sich.

Als Bildhauerin arbeitet Justyna Janetzek vorzugsweise mit dünnen Vierkantrohren aus Stahl oder Eisen und mit Blechen in individuellen Formen, die sie entweder unbehandelt lässt oder mit Dispersionsfarbe und Lack in leuchtenden Farben spritzt, mit Folien beklebt, sowie mit Farbflächen, die sie in einen Raum neu einbringt, mit Licht und Schatten. Die Rohre, die sie selbst auf Länge und Gehrung flext, verbindet sie mithilfe eines selbst entwickelten modularen Stecksystems zu immer neuen Formen, die sie an den je vorgegebenen Orten installiert. In ihren skulpturalen Interventionen findet die Künstlerin ihre Formen aber nicht frei, sondern antwortet mit ihnen konkret auf die Architektur des Ausstellungsortes, seine Strukturen, Farben und Formen – sie spiegelnd, verstärkend, übersetzend und transformierend, sie ergänzend oder konterkarierend.

Das skulpturale Etwas aus Linien und Flächen im Raum ist eine unabgeschlossene Form. Sie öffnet sich auf das Interieur, aus dem heraus sie entstanden ist, bisweilen auch, indem sie durch die Wand geht, auf den städtischen Außenraum. Vor allem aber öffnet sie sich auf die Betrachtenden hin, die diese Form nicht mit einem einzigen und schon gar nicht auf den ersten Blick, nicht distanziert, aus einem Außen heraus, erfassen können. Neugierig beginnen sie, das offene Kunstwerk zu begehen, sich selbst und dadurch die Installation in Bewegung zu setzen, indem sie ihren Linien, Flächen und Formen mit Augen und Schritten folgen und sie in Beziehung bringen zum Raum. In immer neuen Blickwinkeln und Positionen ergehen sie sich die Skulptur und mit ihr den Ort – erfahren ihn, aber auch sich selbst, neu. Denn das eigene Sehen erleben sie bewusst und reflektieren es als eines, das sich mit ihrer eigenen Position verändert. Dabei scheitern all ihre Versuche, das, was sie sehen, indem sie es sprachlich auf den Begriff bringen, als Objekt und Ein-für-alle-Mal-Gesehenes festzustellen. Sie scheitern nicht allein wegen seiner – trotz des modularen Systems, das ihm zugrunde liegt – individuell-einmaligen Form, sondern auch deshalb, weil sich nicht ein einziger Stand- und Sehpunkt als einzig möglicher, nicht eine einzige Perspektive auf die künstlerische Arbeit als die allein richtige erweist. Denn ihrer viele sind möglich und attraktiv.

Sehen ist Bewegung, so kann man erfahren, äußere und innere Bewegung des Subjekts, das sich seine Welt im Dialog mit ihr und mit anderen macht. Seine Welt entsteht in seinem Körper und seinem Kopf, ist perspektivisch und gerade deshalb veränderbar, eine Antwort auf das, was ist – so wie eine skulpturale Intervention Justyna Janetzeks ihre Findung und Erfindung ist als ihre eigen-artige Antwort auf den Schauraum. Dass sie als solche nicht die einzig mögliche Antwort ist, geben ihre Installationen zu bedenken. Als Aufforderung an uns, uns zu bewegen, stehen sie im Raum: als unwiderstehliche Angebote, das Gegebene durch Inkommensurabel-Fremdes hindurch anders zu sehen und in Bewegung zu bringen, als unabweisbare Einladung, die Vielzahl der Blicke und Weisen-zu-sehen nicht nur auszuhalten, sondern als Reichtum zu begrüßen und zu bewahren.

Susanne Schulte, Laudatio GWK-Förderpreis Kunst 2020

Künstlerin

*1986 Klosterbrück, Polen
2009 Institut für Kunst der Universität Oppeln
2009–2016 Studium der Freien Kunst an der Kunstakademie Münster
2013 Meisterschülerin der Professoren Maik und Dirk Löbbert

Homepage der Künstlerin

Jury

Dr. Andrea Brockmann, Leiterin der Städischen Museen und Galerien Paderborn
Maurice Funken, Leiter des Neuen Aachener Kunstvereins
Dr. Stefan Rasche, Mitinhaber der Berliner Galerie Rasche Ripken
Dr. Hans-Jürgen Schwalm, Direktor der Museen der Stadt Recklinghausen
Dr. Ulf Sölter, Direktor des Gustav-Lübcke-Museums Hamm