Henrik Pohl

2018

„weitab“ ist der Auszug aus dem Manuskript seines Debütromans überschrieben, für den Henrik Pohl ausgezeichnet wird. Sein Thema: Selbstverständigung und Revolte eines Adoleszenten, des Ich-Erzählers, und die Funktion des Schreibens in diesem Prozess. Situiert ist die Erzählung in der Sphäre von Seefahrt und Nautik, im Umfeld und Denkraum von Fluss, Meer und Quelle und Hafen.

Weitab von der Stadtgesellschaft, in einem verfallenden Industriehafen, lebt Pohls Ich-Erzähler mit seinem Vater, einem zertifizierten Abrichter von Gebrauchshunden, der all seine Frauen verlor, und einem Wasserschutzpolizisten. Weitab steht der Heranwachsende innerlich von den einsamen, lieb- und sprachlosen Männern, die ihn, in ihrer Maskulinität offensichtlich sicher, zum Mann erziehen wollen. Dieses Milieu zu verlassen, zur See oder übers Meer zu fahren, bereitet der Junge sich vor: beobachtend, recherchierend, notierend, vor allem durch sein Erzählen.

Prominent und explizit, gleich zu Beginn von „weitab“, führt er sich selbst als Leser von Fach-literatur zu Nautik und Seefahrtsgeschichte sowie als Schriftsteller mit hohem Form-Bewusstsein ein – als reflektierter Ich-Erzähler, dem sein Schreiben, die Erzählung, die wir vor uns haben, das Medium seines Projekts der Selbstfindung ist. „Weitab“ ist die Erzählung seines bisherigen Lebens, die es an seine Quelle führen soll und die der Protagonist an die anspruchsvolle Erzählform bindet, die er darin für sich (er)findet: Er will ein „Logbuch“ in Form eines bewegt-wilden Flusses schreiben, der die Farbe urban turquoise hat. So geht er in seinem Schreiben nicht einfach auf und unter, sondern steht immer zugleich über, weitab von ihm und kann sich, realisiert er das poetologische Programm, das er zu Beginn seines Textes in dem programmatischen Denkbild aufruft, in seiner Erzählung tatsächlich als Dichter erweisen.

Ob sein Autor, Henrik Pohl, dies Gelingen zu- oder seinen Protagonisten scheitern lässt, ist im Manuskriptauszug nicht absehbar. Klar erkennbar allerdings wird in seinem Romanauszug der Romancier Henrik Pohl: als virtuoser und reflektierter, belesener und tiefgründiger Dichter auf der Höhe unserer Zeit. „Weitab“ fasziniert in seiner Artifizialität und Kunst, der Text berührt emotional und fordert intellektuell: durch seine nicht lineare Zeitstruktur, die mitunter kühl wuchernde Form, den Wechsel von Erzählfluss und -stagnation, die metaphorische Dichte und Mehrschichtigkeit einzelner Szenen, die Integration unterschiedlicher Textsorten, von Zitaten und Anspielungen, die pointierte Reduktion des Erzählten auf das Wesentliche. Nichts ist hier willkürlich, jedes Moment unterliegt einer minutiösen künstlerischen Entscheidung, doch wirkt die Komposition dann vollkommen ungekünstelt, natürlich. Und jeder Satz ist, wie jeder Textabschnitt auch, rhythmisch und klanglich durchkomponiert, so dass ein eigener Pohl-Sound entsteht, der „das gewisse Etwas“ hat, das nicht fassbar ist.

„Weitab“ geht unter die Haut, der Text wird durchlässig auf etwas Ungreifbares, Größeres, das anders vielleicht nicht sag- und erfahrbar wäre. Er erzählt überdies, wie Lesen und Schreiben ein wichtiges Moment jeder Selbstbestimmung sein kann – und bzw. oder aber die Genese eines Jungen zum Dichter. Denn noch ist auf diesen wenigen Manuskriptseiten offen, was der Erzähler am Ende sein wird: ein „hoffnungsloser Romantiker“, der aus einem tristen Alltag in die Lektüre maritimer Abenteuer von Seeschlachten und Piratinnen flieht; ein echter Matrose oder Kapitän, der mitten im Leben steht; ein Städter mit bürgerlichem Beruf; ein Mann, der weiß, wo er herkommt und hoffnungsfroh aufbricht, ohne zu wissen wohin.

Oder aber ein Romancier, der mit einer Erzählung wie „weitab“ gegen Uniformität und Lieblosigkeit, gegen Gewalt und Disziplinierung, Langeweile und Sprachlosigkeit schreibt – konzentriert und behutsam, magisch, klug.

Susanne Schulte, Laudatio GWK-Förderpreis Literatur 2018

Künstler

*1988 Lemgo
2010–2014 Viadrina-Universität Frankfurt/Oder
2011–2012 Galatasaray Üniversitesi Istanbul
2015–2017 Universität Hildesheim

 Jury

Dr. Susan Kreller, Schriftstellerin, GWK-Förderpreis 2014, Bielefeld
Dr. Stefanie Stegmann, Literaturhaus Stuttgart
Norbert Wehr, Schreibheft, Essen
Dr. Mirjam Springer, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Beate Tröger, Literaturkritikerin, Frankfurt