Charlotte Warsen

2016

Charlotte Warsens Seufzergruppen. Auszüge aus einem Klagegesang, mit denen sie sich um den GWK-Förderpreis beworben hat, sind anarchisch-assoziative und gewitzt-gelehrte, aggressiv-melancholische und musikalische Texte, offene Sprachkunstspiele, in ihrer Art einzig. Multimedial wollen sie rezipiert werden: still gelesen, auf dem Papier gesehen, im Raum gesprochen oder gesungen und gehört. Kein einfach-realistisches, dokumentarisches Abbild der Welt, sind sie widerständig bis in die Abstraktion, ihre Sprache wirkt verworren-dunkel bis abstrakt-hermetisch, zugleich hat sie eine starke körperliche Präsenz und konkrete Bildlichkeit. Die Texte entziehen sich dem gängigen Verstehen wie dem schnellen Konsum, bei näherer Auseinandersetzung auch der landläufigen Rubrizierung als Lyrik oder Prosa. Das Ich der „Seufzergruppen“ ist nicht als Person im psychologischen Sinn oder als landläufiges ‚lyrisches Ich‘ identifizierbar; eine changierende, dennoch einheitliche, bisweilen bitter ironische Sprecherposition ist jedoch auszumachen. Sie kann auf die Haltung der Negativität, die Perspektive des Finsteren festgelegt werden und spiegelt sich u.a. in der Variante eines Haltungstopos wider, der dem abendländischen Melancholiedenken, der ‚schwarzen Tradition‘ der Schwarzgalligen, entstammt: „komm ich mir rettungslos / vornübergebeugt vor“ (21). In gelehrten, mehr oder minder offensichtlichen Anspielungen auf und Zitaten von u.a. Fourier, Adorno, Protagoras oder mit der Bibel reflektiert Charlotte Warsen diese Negativität versteckt als realitätsangemessen und dialektisch. Es geht in ihrem „Klagegesang“ ums Ganze: „immerhin, von hier aus / ist die Erde ein Unding und nicht mehr / zu beantworten“ (17), und: „im Prinzip“, im Grundsätzlichen und von Grund auf, „war ich hin“ (13). Und: „alle hier weigern sich, wirklich zu lieben // so namentlich bei den Schlangen“ (15), „solange wir / aber Schlangen sind ist / es Zivilisation“ (10). Doch es bleibt nicht bei dieser Overall-Negation. Die „Seufzergrupppen“ arbeiten sich an Konkretem ab und begehren auf gegen dies „Unding“ Erde, das mitsamt seinen zahllosen Todesarten und seiner Zivilisation zu verstehen, die Autor-Position sich weigert. Gleich zu Beginn ihres „Klagegesangs“ bringt Charlotte Warsen den Garten Eden, das Paradies auf Erden, zusammen der Totenerweckung durch den Propheten Elias ins Spiel, eine Utopie und eine Legende. Sie machen das nachfolgende Finstre, Abstrakte, Unverständliche des Textes im Adornoschen Sinne zugleich als „schwarze Kunst“, als Präsentation und Kritik der schlechten Wirklichkeit wie als Statthalter der Utopie lesbar und erteilen zugleich der Utopie und entsprechenden Fiktionen die Absage. In der Ästhetischen Theorie Adornos, die 1970 postum herauskam und die Charlotte Warsen etwa mit: „ihre Zeichen sind keine von etwas. Ihr Statthalter ist das Finstere“ (7) zitiert, heißt es: „Um inmitten des Äußersten und Finstersten der Realität zu bestehen, müssen die Kunstwerke, die nicht als Zuspruch sich verkaufen wollen, jenem sich gleichmachen. Radikale Kunst heute heißt soviel wie finstere, von der Grundfarbe schwarz. Viel zeitgenössische Produktion disqualifiziert sich dadurch, daß sie davon keine Notiz nimmt, etwa kindlich der Farbe sich freut. Das Ideal des Schwarzen ist inhaltlich einer der tiefsten Impulse von Abstraktion“ (ÄT 65) und „ihre Askese gegen die Farbe negativ deren Apotheose“ (ÄT 503 – Warsen9). Und „ihr Statthalter“ – der Statthalter der Utopie nämlich – „ist das Finstere“ (ÄT 204). Hier knüpft die Dichterin mit ihrem poetologischen Programm an: „zu erfinden, dass es gut // werden wird, nein. // es wird nicht mehr gut.“ (2) Es geht ihr vielmehr darum, „Eden [zu] verringern, einander [zu] verdunkeln“ (1), am „Labyrinth“ zu bauen, eine Klage nicht allein auszusprechen, das wäre affirmativ, sondern sie kunstvoll zu singen: mit der eigenen Kunst mithin die Sprach- bzw. Wahrnehmungsordnungen der herrschenden Zivilisation, nicht ohne bösen Witz und Selbstironie, in Unordnung zu bringen. Dazu findet und erfindet Charlotte Warsen, die auch Malerin ist, künstlerische Verfahren der Verschiebung und Zerstäubung des Sinns und außer in der semantischen auch in sämtlichen anderen Kategorien der Sprache. Ihr „Klagegesang“ ist nicht allein ein sprachliches, sondern auch ein optisches Kunstwerk, ein Simultanereignis. Souverän wahrt oder unterläuft er die grammatische Ordnung des Satzes, die Regeln der Interpunktion und die Definitionen des Lexikons. Er diffundiert den eindeutigen Sinn von Äußerungen durch unerwartete Kontextualisierung und macht ihre Grenzen zugleich erkennbar oder verwischt sie wie die Grenzen jeder einzelnen sog. „Seufzergruppe“. Am augenfälligsten, und für Charlotte Warsen charakteristisch, ist die Präsentation des Textes als eine Art Bild. Lückenhaft-flächig sind die Wörter, einzeln oder in Gruppen und scheinbar willkürlich, auf der Seite angeordnet, Bifurkationen in einigen Zeilen zwingen dazu, auf zwei Wegen weiterzulesen. Damit ist die lineare Zeilen- und Leseordnung punktuell für jede Form der Lektüre außer Kraft gesetzt –, und spätestens hier erweist sich der Klagegesang als Maßnahme zur Erweiterung oder Sprengung der Begriffspaare ‚Lyrik:Prosa‘, ‚Text:Bild‘, ‚Gesang:Text‘ sowie ‚Autor:Rezipient‘ und  ‚Denken:Wirklichkeit‘ und der Geltungsbereiche der Einzelbegriffe. Mit ihrem schwarzgalllig-finstren „Labyrinth“ provoziert Charlotte Warsen die Lesenden zu unangepasst-kreativen, anstrengenden Lektüren. Sie lädt die Lesenden ein, Co-Autor_innen zu sein, mit ihr „Eden [zu] verringern, einander [zu] verdunkeln“, das gesicherte Terrain des Denk- und Sagbaren zu verlassen. Woraufhin? Das bleibt offen. Liegt im Eröffnen eines Offenen, von dem nur gewiss ist, dass es sich immer wieder schließen und in jedem Fall mit dem Tod in unzählbaren Varianten endet, liegt in der Bewegung der Negation, die zugleich etwas erschafft, das dem großen Nein mit Sicherheit zum Opfer fällt, die der Klage der Dichterin einzig verbleibende Utopie – die eigentlich so nicht mehr heißen kann – und die einzige schwarzgallig-trotzige Möglichkeit des Gesangs? Die 2500-jährige Geschichte dichterischer Klage, die abendländische Tradition widerständigen Schreibens aus Melancholie schreibt Charlotte Warsen mit ihren Seufzergruppenfort: erfrischend, provokativ, selbstironisch, frech, mit einem ihr ganz eigenen Gestus und Ton.

Susanne Schulte, Laudatio GWK-Förderpreis Literatur 2016

 Künstlerin

*1984 Recklinghausen
2004–2010 Düsseldorfer Kunstakademie und Universität zu Köln

Homepage der Künstlerin

Jury

Dr. Florian Höllerer, LCB-Literarisches Colloquium Berlin
Adrian Kasnitz, Schriftsteller, GWK-Förderpreis 2011, Köln
Reto Ziegler, Edition Korrespondenzen, Wien