Yulia Marfutova

2017

Yulia Marfutova beherrscht die Kunst des Erzählens und ragt als ganz eigene Stimme unter den jungen Romanciers hervor. Ihr erster Roman „Das Röhrchen“ – für einen Auszug aus dem Manuskript wird sie heute ausgezeichnet – entwickelt einen Lesesog, dem man sich kaum entziehen kann. Souverän stellt sich die Schriftstellerin in die Tradition der großen Erzähler des 19. und 20. Jhs. und inszeniert, vor dem Hintergrund der russischen Oktoberrevolution und „am abgelegensten, am vergessensten Ort“ des untergehenden Zarenreiches, den Konflikt zwischen der überlieferten Lebens- und Wissensform des Aberglaubens und dem neuen, den Dörflern fremden Paradigma der naturwissenschaftlichen Moderne. Von Fabulierlust getragen, durchdrungen von der Freude an inneren Bildern und der Musik der Sprache, erzählt sie jedoch nicht realistisch-nachahmend, sondern allegorisch-erfindend. Dabei ist alles, auch dort, wo der Text abzuschweifen und in Details auszuufern scheint, bezogen auf das Experiment, das er darstellt, und ein unverzichtbares Moment der großen Metapher. Diese erlangt, obwohl die Erzählung historisch konkret situiert ist, überzeitliche Allgemeingültigkeit und eine fast mythische Dimension. Humor, an der romantischen geschulte Ironie, prägt die Erzählperspektive. Wohlkalkuliert ist der Bogen, den jeder einzelne Absatz inhaltlich und vermöge des Satzbaus spannt, das Spiel mit Rhythmus, mit Klang. Gekonnt die Reduktion und Zeichnung des Romanpersonals, die Wechsel von Innen- und Außenperspektive, die Indirektheit der mündlichen Rede, wie die Autorin Erzählerkommentare einstreut, sie als solche oft verschleiert. Und immer schaut sie ohne zu moralisieren auf ihre uns befremdlichen Figuren, ausdrücklich auch auf ihr Reden, ihr Marktgeschwätz, ihr Erzählen. Darin aber reflektiert sie auch das Erzählen überhaupt – und erzählt seine nach wie vor lebendige Quelle: Geschichten werden gegen die Ohnmacht erfunden, aus Angst und gegen die Furcht; gegen die Furcht vor dem Fremden und seinem verlockenden Zauber, vor dem Unbegriffen-Unbegreiflichen, das war und das ist; gegen die Angst vor dem, was kommen könnte, das die eigene Phantasie erzeugt oder das durch die große Geschichte und die Gewalt der Natur einem Menschen droht. Geschichten setzen dort ein, wo Wissen versagt ist und Wissen versagt. Sie scheinen auch für Yulia Marfutova ein Gegenzauber und mythischer Rest in wissenschaftlich rationaler, auch Geschichte und Zukunft nach Art eines Naturgesetzes begreifenden Zeit zu sein, der not-wendig und lebenswichtig ist, weil mit unserm Wissen auch das Wissen um unsere Unwissenheit wächst. Es ist eine aufgeklärte Magie, die uns die Dichterin offeriert und die uns weiterhilft, wenn und weil „Röhrchen“ zerbrechen und die Revolutionen, wie Saturn, ihre eigenen Kinder fressen.

Susanne Schulte, Laudatio GWK-Förderpreis Literatur 2017

Künstlerin

*1988 Moskau
Germanistik und Geschichte in Berlin

Poetenladen.de

Jury

Hermann Wallmann, Literaturverein Münster, Lyrikertreffen Münster
Klaus Schöffling, Schöffling & Co., Frankfurt
Jan Skudlarek, Schriftsteller, GWK-Förderpreis 2008, Berlin